Forschungsreise zu den Menschen Deutsch  


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In dieser Reihe möchte ich einige Begebenheiten erzählen, die mich auf die eine oder andere Art überrascht, zum Nachdenken angeregt und mir dadurch neue Gedanken gebracht haben. Die Serie habe ich das Jahr 2013 über für den intakt-Rundbrief geschrieben, nun habe ich sie auch auf meiner privaten Webseite. Sie besteht aus sechs Folgen:

   - Teil 1: Schüchterne Weihnacht
   - Teil 2: Parlez-vous globalais?
   - Teil 3: Wir sind die Champignons, au lait!
   - Teil 4: Links, zwo, Hartz, vier!
   - Teil 5: Livin' next door to Angie
   - Teil 6: Wo die Brötchenkruste kracht




Forschungsreise zu den Menschen
Teil 1: Schüchterne Weihnacht


In mehreren Gruppen bin ich auf meinen Artikel angesprochen worden: Julian, was hast Du am Heiligabend gemacht - wirklich Glühwein auf der Straße?
Nein, den Glühwein nicht - ich hatte in der Gruppe zwar gefragt, aber alle Interessierten waren schon mit anderen Terminen "vergeben". So war ich den Heiligabend doch allein. Was tun?

Wie vorgeschlagen besuchte ich eine Kirche - aber diesmal nicht die gewohnte evangelische. Mal was anderes, völlig unbekanntes. Ich dachte zuerst an einen fremdsprachlichen Gottesdienst, vielleicht polnisch als Gedenken an meine oberschlesisch-zweisprachigen Vorfahren. In der Zeitung stand nur eine kroatische Messe. Dann vielleicht eine der kleinen Splitterkirchen? Da war doch die Angst zu groß, als Fremder in der Gemeinde aufzufallen. "Würde ich dort ungetauft rausgehen können?"
Ich entschied mich schließlich für eine Baptistenkirche - wie erholsam nach einer aggressiven Beschneidungs-debatte wirkt es, daß dort nur Erwachsene getauft werden. Mein Gedanke war aber ein anderer und noch größer als der große Saal: "Hoffentlich merkt niemand, daß ich nicht zur Gemeinde gehöre." Ich schlich mich schnell mit der Menge durch den Eingang.
Ich wußte, daß die Kirche ein moderner Neubau war, aber so modern hätte ich sie mir nicht vorgestellt: Gleich das Erste hinter dem Eingang war ein Flachbildmonitor, auf dem die Gottesdienst-Termine gezeigt wurden. Die Predigt konnte über Kopfhörer in Simultanübersetzungen gehört werden, und Liedtexte wurden mit !!Beamern!! an weiße Saalwände projiziert. Die Predigt dagegen war theologischer als ich es vom Luthertum kenne, ich merkte, warum ich in keiner Religion Mitglied bin. (1)

Nach dem Gottesdienst wollte ich meine Weihnachts-Ideen weiter ausprobieren. Ich fuhr zum Hauptbahnhof. Ich war überrascht, wieviele Leute um 18.00 noch unterwegs waren.
Zwei Tafeln Schokolade hatte ich zum Verschenken eingepackt. Wem? Zu spät sah ich drei Gleise weiter den Intercity Hannover-Leipzig. Ich würde es nicht mehr schaffen, hinüberzugehen. Es wäre schön gewesen den Schaffner zu beschenken. Denn wie fühlt es sich an, wenn man in einer fremden Stadt kurz aus dem Zug steigt und dann von einem Unbekannten ein Geschenk bekommt? Weihnachtlich - die Hirten und Könige, die nach der Geburt "in Massen den Stall stürmen", waren für das neue Elternpaar auch Unbekannte.
Ich hing noch in solchen Gedanken, da fiel mir ein: An "meinem" Bahnsteig wird auch gleich ein Zug losfahren, der braucht 1,5 Stunden bis zum Ziel. Also ging ich zu diesem und überreichte dem Lokführer durchs offene Fenster eine Schokolade.
"Danke - wie komm ich zu der Ehre?"
"Sie müssen heute noch arbeiten, während alle anderen schon am Tannenbaum sitzen."
"Und Sie?" - Oh, die Frage traf mich hart und unvorbereitet. Sollte ich die Wahrheit sagen und den Lokführer mit meinen Lebensdefiziten konfrontieren? Ich entschied mich für ein offen-mehrdeutiges "Ich werd auch gleich nach Hause gehen."
Die letzte Tafel gab ich am Infostand in der Bahnhofshalle ab, der immer noch besetzt war.

Wieder zuhause hielt ich den Abend für gelungen - doch etwas fehlte noch. Richtig: Kirche am Heiligabend kenn ich doch nur "normal". Ich ging also noch zu einem 23-Uhr-Gottesdienst, mit der großen Frage: Kommt noch wer? Will ich wirklich allein in der Kirche sitzen - allein die Lieder singen und allein manche zu gläubige Liedzeile auslassen? Durch die offene Kirchentür sah ich einige Musiker bei der Vorbereitung - und leere Bänke. Uups! Ich wartete, mit dem Beschluß: Falls zehn Leute reingehen, bin ich der elfte. Als ich dann reinging, sah ich, daß erstens schon 20 Leute vorher drinsaßen und zweitens am anderen Ende der Kirche. Die Musiker standen ganz hinten, so daß ich die allerletzte Bankreihe gesehen habe. Klar, daß die letzte Reihe leer war.
Nach dem Gottesdienst war dann wirklich alles gut.


"(1) Warum war ich trotzdem in einer Kirche? Nun ja: 1. Als Gegenpol zum "Konsumfest" ist etwas Nichtkapitalistisches notwendig. 2. Jesus war ein bemerkenswerter Mensch, egal wer nun sein Vater war. 3. Da ist man am Familien-Feiertag nicht allein. 4. Wenn 500 Leute gemeinsam "O du fröhliche" singen, ist das ein Erlebnis."




Forschungsreise zu den Menschen
Teil 2: Parlez-vous globalais?


Heute geht es um meine Reisen nach, besser über Paris. Diese Reisen waren meist mit dem Eurolines-Bus nach Paris, dann mit dem Nachtzug oder TGV weiter bis an die spanische Grenze.
Weil hier der Name "Paris" gefallen ist - ein Klischee gleich zu Beginn: Als ich das letzte Mal dort war, ist nur ein einziger Mensch mit Baskenmütze und Baguette auf die Straße gegangen. Ich selbst. Diesen Spaß hab ich mir nicht nehmen lassen.
Auf Reisen stolpert man sowieso oft über Mißverständnisse. Was sagt uns z.B. ein Schild im französischen Bahnhof, "compostez votre billet"? Was bitte, den Fahrschein ...? Nein, nicht in die Biotonne werfen, sondern in den Stempelautomaten schieben. In Frankreich muß man das auch bei der Eisenbahn. (1)

Zwei Begegnungen auf solchen Reisen möchte ich hier schildern, die erste fand in Brüssel statt. Das Heimatland meines Gesprächspartners möchte ich nicht nennen, da unter Menschen das Vorurteil besteht, daß Menschen anderer Hautfarbe "alle gleich aussehen" würden.
In der Jugendherberge traf ich jemanden, der im selben Zimmer wie ich untergekommen war. Wir redeten nur kurz, er sagte eigentlich nur, daß er von Brüssel aus nach Paris weiterwolle. Damit war das Kennenlernen schon wieder beendet. Ich ging für den Abend ins Restaurantviertel, wo das Gespräch zwischen einem Kellner und mir wie folgt verlief:
"You want eat?" - "No tengo dinero." (2)
Am nächsten Tag fuhr mein Bus nach Paris. Ich begab mich, da ich viel freie Zeit hatte, eine Stunde eher zur Busstation. Da sah ich - ist das wahr? - das ist doch der von gestern! "Oh, you're on the same bus as me?" So kamen wir ins Gespräch. Er erzählte mir seine Geschichte: Er wäre zwei Wochen vorher nach Brüssel eingereist, dann aber bestohlen worden. Nun reichte das Bettelgeld fürs Busticket, er wollte zu seinem Bruder in Paris. Langsam dämmerte es mir: Er war ein anderer! Ich hatte hemmungslos - und unerwartet unschüchtern! (3) - einen Fremden angesprochen! Wir sprachen eine Stunde über seine und meine Heimat, dann fuhr mein Bus. Seiner noch nicht, er hatte den übernächsten gebucht.
Jahre später war ich wieder zum Umsteigen in Paris. Mein Reiseproviant war so geplant, daß ich dort Wasser und Brot nachkaufen wollte/mußte. Ich wußte, daß in der Nähe des Bahnhofs ein Supermarkt war, den wollte ich besuchen.
Doch ich fand nur eine leere Halle vor - er wurde umgebaut. Ich ging also weiter, in der Hoffnung, einen anderen Laden zu finden. Ein solcher war ein arabischer (4), klein und eng. Ich ging hinein, unsicher-wortlos sah ich nach Wasserflaschen in Litergröße, nahm eine und zeigte sie dem Verkäufer.
Der sagt zu mir - auf deutsch: "Ein Euro." Ups, sieht man es mir an, woher ich komme? Ich bezahlte passend und ging. Lag es etwa an meiner Reisetasche, einst ein Geschenk zum Weltspartag - aber woher würde ein französischer Araber ein deutsches Banklogo kennen?
Fragen über Fragen - aber die Lösung war ganz einfach. Natürlich hat er es französisch gesagt - "ong örro". Das klingt nicht sehr anders, und wer weiß, wie weit es durch arabischen Akzent noch verändert wurde. Den Rest habe ich selbst "zu verantworten" - ich hatte es so mißverstanden, es klang so selbstverständlich, daß ich keine Zweifel mehr daran hatte.
Das Baguette holte ich mir schließlich an einem Brotstand in einem Einkaufszentrum. Dann war auch schon Zeit, die Baskenmütze aufzusetzen und auf den TGV zu warten.

Und zum Schluß des Artikels paßt noch ein Witz, der mir immer dann einfällt, wenn ich das Schild "beeidigter Dolmetscher" sehe:
"Sind Sie der beleidigte Dolmetscher?"
"Ich bin nicht beleidigt, Sie Idiot!"
"Na jetzt schon!"


"(1) Das ließe sich für eine Mutprobe nutzen. Man steige in einen deutschen Bus ein und frage mit französischem Akzent den Fahrer: "Pardong Missjö, wo kann'isch kompostieren die Billjeh?"
(2) "Du willst essen?" (englisch) - "Ich habe kein Geld." (spanisch)
(3) Weil das "Fremde ansprechen" bei Nichtschüchternen zentral zum Schüchternen-Klischee gehört, fühle ich mich bei dem Satz etwas unwohl. Aber jenseits aller Vorurteile ist es eben doch oft ein Problem.
(4) Der französische "arabe de coin" ist etwa wie bei uns der türkische Gemüseladen."





Forschungsreise zu den Menschen
Teil 3: Wir sind die Champignons, au lait!


Die Überschrift läßt vermuten, daß es in dieser Folge wieder um Frankreich geht. Das stimmt zwar, aber nicht hauptsächlich. Es geht um Fußball. Genau gesagt geht es um die WM-Endspiele 2006. Noch genauer gesagt geht es überhaupt nicht um Fußball, sondern um das Verhalten, das er bei Menschen auslöst.
Wir erinnern uns: Deutschland hatte im Halbfinale gegen Italien verloren, dann gegen Portugal mit 3:0 den 3. Platz geholt. Einen Tag später sollte Italien im Finale gegen Frankreich spielen - aber erst einmal wurde das Ergebnis der Deutschen groß bejubelt. (1)

Für mich waren all diese Ergebnisse ein Anlaß, zusammen mit der deutschen Fahne auch noch eine französische an den Besenstiel zu binden. Noch der Abschiedsratschlag meines Bruders - "laß dich nicht von Italienern verprügeln" - dann ging ich in die Innenstadt. Immer mehr Fans strömten auf der zentralen Hauptstraße zusammen. Mit soviel Schwarz-Rot-Gold, wie ich es auch anderswo sehen möchte: bei der Demo, die sich einem Naziaufmarsch in den Weg stellt. (2)

Den Abend über zählte ich die Parolen, die Fans der Finalteams mir zuriefen, das "Forza Italia" und das "Allez les bleus" der Franzosen - das aber auch die beiden Araber im Pizzakiosk sangen, als sie mich sahen. In dieser Zählung stand es am Ende 10:2 für Frankreich. Deutschland-Fans, die mir sowas wie "Scheiß-Frankreich" zuriefen, brachte ich mit einer Gegenfrage zum Meinungswechsel: "Und wer soll Italien besiegen?" Sofort standen sie auf meiner Seite.

Ich wollte aber nicht nur in den Mittelpunkt der Fanmeile, sondern auch in die Fußgängerzone, wo etwas weniger los war. Ich wußte nicht, daß dort noch eine andere Veranstaltung stattfand, die "Nacht der Kultur", also die marschierenden Sambatrommler vor mir nichts mit Fußballfreude zu tun hatten.
Bei Kulturfreunden steht Frankreich (Italien auch) wegen seiner Küche, Sprache usw. in hohem Ansehen. Es war daher fast zwangsläufig, daß die Doppelfahne Interesse erregte. Nicht lange war ich zwischen dem Kultur-publikum, als ich schon von einer etwas älteren Dame angesprochen wurde. Das Gespräch verlief so: Erfreut: "Schön, Sie haben auch eine französische Fahne. Hat das was zu bedeuten?"
Kämpferisch: "Ja! Italien hat Deutschland besiegt, und irgendwer muß Italien besiegen. Und deshalb gewinnt morgen: Frankreich!"
Etwas schockiert: "Meinen Sie das wirklich?"
Durch die Frage fiel die gesamte Feier-Jubel-Mitmach-Stimmung von mir ab. So erleichtert wie spontan konnte ich antworten: "Ach, ist nur Fußball!"

Weil es "nur Fußball" war, war es auch nicht wirklich schlimm, daß im Finale dann Italien gewann. Nicht wirklich schlimm? Belanglos war es aber auch nicht - wie sich vier Monate später zeigte, als ich aus meiner Küche erzählte:
"Manchmal mach ich mir selber eine Pizza."
"Oh, bist du Italien-Fan?"
"Darf man das inzwischen schon wieder zugeben?"


"(1) Wir erinnern uns noch mehr: Der 3. Platz 2006 mit Klinsmann wurde stärker bejubelt als der 2. Platz 2002 mit Völler.
(2) Dieser Wunsch dürfte hier und da immer noch Irritationen auslösen. Aber dazu besteht kein Anlaß: Selbstverständlich kann/darf/muß unsere Fahne gegen Rechts gezeigt werden. Deutschland gehört nicht denen, die es schonmal zerstört haben. Deutschland gehört denen, die es lieben. Und auch dieser Satz ist nichts Schlimmes: Dazu muß man nicht dort geboren sein. Man kann auch ein Land lieben, in das man freiwillig eingewandert ist."





Forschungsreise zu den Menschen
Teil 4: Links, zwo, Hartz, vier!


Nach zwei schönen Orten in den letzten Folgen geht es nun in eine Gegend, die eher als das Gegenteil gilt: in die Hartz-4-Bürokratie.
Doch bei dem Thema muß ich zunächst eine verbreitete Empfindung ansprechen: Das Wort "Hartz 4" löst bei vielen Angst und Wut aus. Es ist ein sprichwörtliches "rotes Tuch". Dieses Sprichwort paßt - es sagt, daß man eigentlich NICHT wütend werden sollte. Denn es kommt wahrscheinlich aus dem Stierkampf. Genau da sitzt der springende Punkt: Dort wird das rote Tuch benutzt, um den Stier von sich abzulenken und ihn in eine passende Position für den Säbelstoß zu manövrieren. Daher die Regel: "Wenn du ein rotes Tuch siehst, halte deinen ganzen Verstand zusammen! Prüfe, ob dir jemand ein unfaires Spiel aufzwingen will."

Diese Regel befolgte ich auch, als ich ein rotes Tuch gezeigt bekam - in diesem Fall eine Ladung der "Arge" (1) zur Kontoprüfung, zwecks Verlängerung meines Hartz-4-Bezugs. Ich bereitete mich vor mit einer Exceltabelle mit meinen Kontoständen - nicht um sie vorzulegen, sondern um zu sehen, bei welchen Zahlungen meine Konten einen auffälligen Eindruck machen. Danach fand ich den Mut zu diesem Termin. Auf dem Weg zum Amt ließ ich mir von der Bank noch einmal den tagesaktuellen Girokonto-Stand geben.

Alle Kontoauszüge der letzten 6 Monate wurden durchgesehen. Beim Sparbuch war es noch einfach, bald ging es an die große Aufgabe: das Girokonto. Manche meiner Daueraufträge erwiesen sich als kleine Stolperfallen: "Was ist EWS?" - "Strom." (2)
Damals lief noch Gruppen-Fördergeld über mein Konto, weshalb ich aber alle Förderbescheide für SHG und intakt e.V. mitgenommen hatte. Ich versprach, in Zukunft dafür das Vereinskonto zu nutzen. Erklären mußte ich es trotzdem, aber das tat ich gerne: "Das hier zum Beispiel ist unser Projekt in Magdeburg" - schon lag ein halbseitiger Zeitungsartikel mit einem Foto von mir auf dem Tisch. Da, wo ich ihn haben wollte.
Problemlos dagegen wurde mein Überweisungs-kreislauf akzeptiert: um über die Kontogebühren-Freigrenze zu kommen, lief mein Geld über 2 Stationen von meinem Konto auf mein Konto. Natürlich alles mit Protokoll und Unterschrift, und der Möglichkeit zum Nachrechnen: "1250 müssen monatlich als Über-weisungen eingehen, da können Sie prüfen, alle Beträge zusammen ergeben immer 1260."

Zum Schluß ging meine Sachbearbeiterin zum Kopierraum, ich sollte solange auf dem Flur warten. Dort sprach mich eine weitere "Kundin" an. Sie sah aus, als hätte sie es im Leben nicht so gut gehabt wie ich. "Die suchen was, um uns das Geld zu verweigern." Meine Antwort: "Keine Angst. Die gucken genau hin, aber dann stimmt deren Rechnung auch." Der Satz drückte meine Erfahrungen gut aus (3), war aber natürlich nicht nur an meine Gesprächspartnerin gerichtet: Ich hoffte, daß meine Sachbearbeiterin ihn zufällig mithören würde. Ich wurde gleich auf dem Flur verabschiedet. Der Stapel Kopien sah aber sehr schmal aus, wie hat sie denn 68 Kontoauszugs-Seiten darauf kopiert? Mit der Zusage, daß sie meinen Bescheid gleich fertigmachen würde, war ich entlassen. Ich erhielt meine Verlängerung.

Ein Jahr später hatte ich den nächsten Kontoprüfungs-termin, diesmal bei einer anderen Sachbearbeiterin. Das Gruppengeld lief natürlich nicht mehr über mein Konto, dafür wurde nun meine Art beanstandet, wie ich Kontogebühren vermied. Aber auch diesmal konnte ich lückenlos Dokumente vorlegen, und so blieb es am Ende bei einer schriftlichen Erklärung, daß es nur um die Gebühren ging. Mein Kommentar: "Wer mit 600 Euro auskommen muß, kommt eben auf solche Ideen."
Während dieses Termins lagen die Vorjahresakten halboffen auf dem Tisch, so konnte ich einen heimlichen Blick drauf werfen. Was mußte ich dort lesen, in der Handschrift der vorjährigen Sachbearbeiterin? "Auf die Kopie der gesamten Kontoauszüge habe ich wegen deren Anzahl verzichtet." Nur der letzte der sechs Monate war kopiert worden.

Am Ende des Termins hielt ich es für passend, noch ein Kompliment zu machen. Die Leute im Arbeitsamt haben ja oft Angst vor ihren "Kunden", da kann es nicht schaden, positiv aufzufallen. Ich sagte also ihr dasselbe, was ich ein Jahr vorher im Flur gesagt hatte.
Was ich nicht bedacht hatte: Genau das - "Sie schauen sehr genau hin" - bekommt sie oft von überführten Betrügern zu hören. Daher fiel sie in eine automatische Rechtfertigung, "das ist Steuergeld, da müssen wir nun mal aufpassen." Oh - ist da ein Kompliment als rotes Tuch mißverstanden worden?
Aber ich bestand auch diese Prüfung und erhielt ein halbes Jahr weiter Hartz 4.

Es sollte das letzte halbe Jahr sein. Denn dann hat die sonst so korrekte Arge doch noch einen Fehler gemacht. Sie hatte bei meinen Vermögensbelegen die Zeilen "Geldeingang" und "Kontostand" vertauscht. Da mehr Geld eingegangen als noch vorhanden war, wurde mein Vermögen zu hoch angesetzt, fiel über meinen Freibetrag und ich aus dem Hartz 4.
Ich überlegte, ob ich es reklamieren sollte, aber nur kurz. Mein Arbeitseinkommen war bereits so hoch, daß ich auf das "Sahnehäubchen" (4) verzichten konnte. Ich verzichtete auf weiteren Hartz-4-Bezug und begann freiwillig das Abenteuer des normalen Gelderwerbs.


"(1) Das, was heute "Jobcenter" heißt.
(2) Ich habe nicht erwähnt, daß es sich dabei um Ökostrom handelt.
(3) Unter anderem hatte das Amt in meiner Mietnebenkosten-Abrechnung einen Fehler gefunden, der nicht einmal mir aufgefallen war.
(4) Als solches bezeichnete ich das Hartz-4-Geld gegenüber meinem Fallmanager, sobald mein Arbeitseinkommen hoch genug war."





Forschungsreise zu den Menschen
Teil 5: Livin' next door to Angie


Für diese Folge hatte ich am 22.9. die Qual der Wahl. Ich habe mich gequält und dann gewählt:
Da ist z.B. eine Partei, in der bin ich Mitglied, ich habe sie aber nicht gewählt. Eine andere hat meine Zweitstimme bekommen, und zwar als Protest gegen Fehler "meiner" Partei. In einer anderen Partei kenne ich die Direktkandidatin, deren Sprechstunde ich einmal in Sachen intakt e.V. besucht habe und die traditionell meine Erststimme bekommt. Und eine weitere Partei habe ich nicht gewählt - aber sie hat eine Kanzlerin, die lange Zeit Spott von ähnlich verletzender Sorte ertragen mußte wie ich. Was ihr entgegenschlägt, hat eine andere Qualität als früher bei Saumagen-Kohl und Zigarren-Schröder. Außerdem ist sie ein Beispiel dafür, daß man die Leisen und Harmlos-Wirkenden nicht unterschätzen darf. Soll heißen: ich hätte eigentlich doch einen Grund, sie zu unterstützen.

Ich wollte eigentlich nicht zu einer Partei-Wahlparty, aber auch nicht das Ergebnis allein erfahren. Denn eine seltsame Spannung lag in der Luft. Ich mußte einfach, auch wenn ich keinen Fernseher habe, irgendwo eine Wahlsendung sehen. Vielleicht bei einem Döner - dann endet der Wahltag auch nicht als Veggieday. Ich kam an einem Laden vorbei, aus dem plötzlich Jubel erschallte. Ich sah hin, ach so, Büro der Linkspartei.
Der Fernseher im Dönerlokal, der sonst den Raum mit türkischer Popmusik beschallt, zeigte die Wahlsendung der ARD. Ich sah die erste Hochrechnung, das Ergebnis nahm mir die ersten Ängste vor der "falschen" nächsten Regierung. (Die zweiten noch nicht!)

Meine erste Wahlparty war die der Grünen. Die Tür stand offen, auf dem Boden stand mit Kreide "Herzlich willkommen". Ich bin dort bekannt, schon über die Bioladen-Genossenschaft, und wurde daher begrüßt mit "Du hast gerade was verpaßt". Hatte ich nicht: "Den Kretschmann hab ich grad in der Dönerbude gesehen."
Natürlich lief die Wahlsendung. Nach einiger Zeit sah ich eine Grafik zur Sitzverteilung - was, die CDU hat sooo viel? Dann wärs interessant, auch mal deren Wahlparty zu besuchen. Wie schön muß es sein, seine Mobber genauso abzuservieren wie es Angela Übermerkel jetzt könnte. Elemente von "Smokie" und den "Ärzten" flossen ein in ein spontanes Lied - hart an der Grenze zwischen Spott und Bewunderung:
"Sechzig lange Jahre ging es Deutschland wohl
bei Adenauer, Ludwig Erhardt, Brandt, Schmidt, Schröder, Kohl.
Aber trotzdem denkt die halbe Welt bei Deutschland nur
an Angie.
Sie setzt in Deutschland Themen, und Trends bei der Frisur.
Sie holt noch nicht mal Luft dabei, wie macht sie das nur?
Und sie ist so beliebt, das heißt vier Jahre mehr
mit Angie."


Die Tür des CDU-Hauses war geschlossen, aber nicht abgeschlossen. Licht war an, und ich sah jemanden. Also Tür auf und rein. Ich ging zum Tresen im Vorraum:
"Guten Tag, haben Sie sowas wie'ne Wahlparty, wo Ihre Mitglieder die Wahlsendung ansehen?"
"Ja - wollen Sie dabeisein?"
"Naja, Sie stehen doch kurz vor der absoluten Mehrheit."
"Und da freuen Sie sich so, daß Sie das nicht alleine gucken wollen?"
"Das ist wie Fußball-WM, das muß man gemeinsam gucken!"
"Ist hier im Haus, und nehmen Sie sich was vom Buffet."
Wie selbstsicher war ich denn da! Ich merkte, daß Merkels Erfolgsgefühl auf mich abfärbte, obwohl ich sie - siehe oben - nicht gewählt hatte.
Auf die CDU-Mitglieder im Saal schien es nicht abzufärben, es war mehr eine gemütliche Essensrunde. Ich fühlte mich fremd, weil ich dort nicht in das Milieu paßte und auch kein Mitglied bin. Es war mir peinlich, als ich plötzlich merkte, daß ich Merkels typische Handhaltung nachmachte. Erst nach einer Viertelstunde nahm ich mir ein Laugenbrötchen vom Buffet. Stimmung war nur wenig - bis dann eine ZDF-Grafik der Partei 304 von 606 Mandaten zuschrieb. Da kam doch Jubel auf, nicht ganz wie nach einem Fußballtor.
Nachdem ich auch noch gesehen hab, daß der Direktkandidat in Wahrheit gar nicht so grau ist wie auf seinem Plakat, hatte ich ausreichend viel Stimmung eingefangen. Ich nahm mir noch ein Werbeheftchen mit Merkels Lebenslauf.

Meine nächste Station war die Piratenpartei. Um im Fußballsprech zu bleiben: Wenn die wieder aufsteigen will, muß sie jetzt ihre Kräfte sammeln und hart trainieren. Eine große Gruppe junger Menschen stand vor der Tür, ich ging aber rein. Die Stimmung war dort wenig, meine auch: Zuerst fiel ich nicht auf, stand unsicher am Eingang. Erst nach einer Minute sprach ich den Kandidaten an: "Ich bin zwar kein Mitglied, aber kann ich trotzdem hier dabeisein?"
Ich blieb auch dort eine Viertelstunde, aber auch dort merkte ich, daß ich nicht der Typ für politische Diskussionen bin - die trotz der vielen Internetgeräte stattfanden. Nur einmal brachte ich mich ein: "Selbsthilfegruppen kriegen Geld von Krankenkassen und nicht vom Staat!"
Den Abend beendete ich im Rathaus bei der Auszählungszentrale. Hier traf ich leider keine weiteren Politiker, erfuhr aber, daß "meine" Erststimmen-kandidatin das Direktmandat geholt hat.

Und nun - schaun wir mal, welche Koalition sich bildet. Hoffen wir, ob schwarz-rot oder schwarz-grün, daß beide Partner sich gegenseitig hindern, ihre jeweilige Ideologie voll durchzuregieren.




Forschungsreise zu den Menschen
Teil 6: Wo die Brötchenkruste kracht


Als ich noch als Briefträger arbeitete, wohnte in meinem Bezirk eine jüdische Familie. Eigentlich eine Familie wie jede andere - aber wer 13 Jahre in eine deutsche Schule gegangen ist, muß sich diese Tatsache erst wieder bewußt machen. Geschichtswissen ist sehr wichtig, wenn man im Wahlkampf die Abkürzung NPD liest. Es ist aber hinderlich, wenn man einen ganz normalen Brief bei einer ganz normalen Familie zustellen soll.

Am 4. Juni 2011 fand in Braunschweig eine Neonazi-Demo statt. "Selbstverständlich" auch eine große Gegendemo mit Reden und viel Lokalprominenz. Der geplante Neonazi-Marsch durch die Innenstadt konnte von der Stadtverwaltung mit juristischen Finten verhindert, auf eine Kundgebung auf dem hintersten Bahnhofsparkplatz verkleinert werden. (1) Ich hätte an der Gegendemo teilnehmen, mir die Arbeit dazu passend einteilen können - tat es aber nicht. Stattdessen machte ich meine Briefträgerarbeit.

Den bei offensivem Antifaschismus kommen mir unangenehme Erinnerungen hoch: an eine Vergangen-heitsvermittlung, die zwar den mündigen Bürger predigt, aber dessen kritische Fragen mit Dogmen und Tabus abblockt. Kann man Zivilcourage in der Schule lernen, wenn dort jede "unbequeme" Meinung aufs Zeugnis durchschlagen kann? Unbequem ist bereits, wer die Hochmoral auf ihre Widersprüche und Lebenslügen hinweist. (2)

Aber ich geb zu, daß mein Problem mit guten Dingen und Werbung für gute Dinge ein anderes ist: Wo waren die Mahner und Betroffenen, als ich mal Hilfe brauchte? Oder wenn nichtjüdisch-weiß-männliche Deutsche kollektiv in die Täterschublade sortiert werden? Liebe Gutmenschen, legt die Hand aufs Herz und sprecht mir nach: "Gewalt ist auch dann widerlich, wenn die Täter keine Neonazis und die Opfer keine Frauen sind."

Am Ende der Posttour, in einer einsamen Wohnstraße, kam ich mit dem Zustellfahrrad aus einer Grundstückseinfahrt. Da sah ich auf der anderen Straßenseite, das ist doch - richtig, der Vater der erwähnten Familie. Es war das einzige Mal, daß ich ihn in der Öffentlichkeit mit Kippa (3) gesehen habe - eine schwarze mit aufgesticktem hebräischen Text.
Ich weiß nicht, ob er damit ein Zeichen setzen wollte. Vielleicht wollte er überhaupt nicht demonstrieren, sondern sich einfach nur zu seinem Glauben bekennen. Auch konnte ich nicht wissen, welche Meinung er tatsächlich von den beiden Demos hatte.
Und trotzdem: Dieses stille, vollständig friedliche Bild. Keine Aggression, keine Moralheuchelei. Niemand stand neben mir, der eine "politisch korrekte" Meinung von mir erwartete. Gerade diese Stille und Einsamkeit beeindruckte mehr als es die Kampfparolen von 2000 Gegendemonstranten je könnte.

Was hätte ich getan, wenn ich in dem Moment Zeuge von antisemitischer Gewalt geworden wäre? Da kann ich nur ehrlich schreiben: Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich schon öfter an eigenen guten Vorsätzen gescheitert bin. Daher kann ich nicht einfach behaupten, daß ich "natürlich" geholfen hätte. Ich würde das - siehe oben - eh nur den wenigsten Menschen glauben. (4)
Es ist noch die Frage, ob er in dem Moment ein Risiko einging. Falls ja - war sein Bekenntnis ein tatsächlich mutiges "Gesichtzeigen". Falls nein - ist doch gut, denn dann war alles so, wie es sein sollte.

So habe ich doch noch ein Vorbild gefunden.


"P.S.: Was hat das mit der Brötchenkruste zu tun? Mit der Zeit vor dem Briefkasten der Familie nannte ich Israel irgendwann "das Land, wo die Brötchenkruste kracht". Ist halt mein ganz spezieller Humor, um die Situation zu erleichtern. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, ich war nie in Israel. Aber was ich weiß, und was der Spruch ausdrücken soll: Auch dort wohnen ganz normale Leute, die es nicht verdient haben, daß man bei ihrem Land nur an Gewalt und intolerante Extremisten denkt. Und überhaupt: Brot ist Leben. Krieg ist Tod.

(1) Um die Nazidemo herum stand eine Tausendschaft Polizisten. Offiziell sollten sie die Gegendemonstranten von den Neonazis fernhalten, in Wirklichkeit versteckten sie die Nazidemo vor der Welt. Den Erfolg kann man festhalten! Wir sind gegen Rechts nicht hilflos!
(2) Ältere kennen dieses Gefühl aus dem Konfirmandenunterricht, ehemalige DDR-Bürger aus dem Schulfach "Staatsbürgerkunde".
(3) die kleine jüdische Kopfbedeckung
(4) Ich wünsche mir von der Antifa öfter solche Sätze: "Ich wehre den Anfängen, weil ich unter dem Gleichschaltungsdruck einer Diktatur genauso schnell umkippen würde wie meine Großeltern." - "Ich bin Antifaschist, denn wer sein Land liebt, schützt es vor Extremismus." - "Ich bin Antifaschist für meinen Großonkel, der im Januar 45 neben einer schlesischen Landstraße erfror." Das wäre allen gegenüber ehrlich."



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zuletzt am 08.11.38 / 18.08.2014 um 17 Uhr 30